Textiles HydroSKIN-Element: Ein Mehrlagensystem auf Textil- und Folienbasis absorbiert das auf die Gebäudefassade treffende Regenwasser und lässt in Hitzeperioden Wasser zur evaporativen Kühlung verdunsten.

Textiles HydroSKIN-Element: Ein Mehrlagensystem auf Textil- und Folienbasis absorbiert das auf die Gebäudefassade treffende Regenwasser und lässt in Hitzeperioden Wasser zur evaporativen Kühlung verdunsten. (Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren)

Hydroaktive Fassade bietet Schutz vor Hitze und Hochwasser

An der Universität Stuttgart wurde eine hydroaktive Fassade vorgestellt, die nicht nur Aussenwände und das Gebäudeinnere, sondern auch den Stadtraum kühlt.

Textile Fassadenelemente namens "HydroSKIN" nehmen dafür bei Regen Wasser auf und geben es an heissen Tagen zur Verdunstungskühlung wieder ab. Schaut man beispielhaft auf ein mit einer Wärmebildkamera aufgenommenes Luftbild der Metropole Singapur, sieht man viele orange-rote und nur wenige grün-blaue Areale. Die roten Zonen repräsentieren bebaute Gebiete. Dort sind die Temperaturen um rund zehn Grad höher als in den "grünen" Parks.

Wassertropfen im Abstandsgewirke der HydroSKIN. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und KonstruierenWassertropfen im Abstandsgewirke der HydroSKIN. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren

Der Grund dafür: Über natürliche Oberflächen verdunsten rund 60 Prozent des eintreffenden Regenwassers und sorgen so für Abkühlung. Versiegelte Straßenund Gebäudeoberflächen lassen dagegen nur zehn Prozent Wasserverdunstung bzw. Versickerung zu. Die restlichen 90 Prozent gelangen in die Kanalisation und führen neben den steigenden Temperaturen zu einem weiteren weltweiten Problem – verheerende Überschwemmungen durch Starkregen. Steigende Urbanisierung, bauliche Verdichtung und zunehmende Flächenversiegelung verschlimmern neben den Auswirkungen des Klimawandels Hitze- und Hochwasserrisiken in Großstädten.

Eine Ertüchtigung der Kanalisation zur Bändigung der stetig zunehmenden Wassermassen würde einen unvorstellbaren baulichen Aufwand mit sich bringen. Zudem sei dies in Zeiten knapper Ressourcen keine gute Lösung, meint Prof. Werner Sobek, bis 2020 Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart und früherer Sprecher des Sonderforschungsbereichs SFB 1244, in dem 14 Institute der Uni Stuttgart interdisziplinär an dem gemeinsamen Ziel zusammenarbeiten, für das Bauwesen Antworten auf die drängenden ökologischen und sozialen Fragen unserer Zeit zu finden.

Nach Sobeks Einschätzung stellen hydroaktive Elemente bei minimalem Ressourceneinsatz eine effektive Fassadenlösung zur Neutralisierung des städtischen Hitze-Insel-Effektes dar.

Textile Hülle

Wärmebildaufnahme vom feuchten (links) zum trockenen Zustand (rechts) der HydroSKIN mit zehn Grad Kühleffekt. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und KonstruierenWärmebildaufnahme vom feuchten (links) zum trockenen Zustand (rechts) der HydroSKIN mit zehn Grad Kühleffekt. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren

Das Kernelement der HydroSKIN ist ein Abstandsgewirke, das aus zwei textilen Lagen besteht, die durch die Polfäden miteinander verbunden und auf Abstand gehalten werden. Die dadurch sichergestellte hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung von Wasser und verstärkt den Kühleffekt der Fassade. An der Außenseite dieser Einheit ist eine zusätzliche wasserdurchlässige Textilhülle platziert, die nahezu alle Regentropfen eindringen lässt und gleichzeitig das Gewirke vor Verunreinigungen durch Insekten und Blätter schützt.

Auf der Raumseite des Abstandgewirkes ist eine Folie angeordnet, die das Wasser in das untere Profil abführt. Von dort kann es, entweder in einem Reservoir gespeichert oder direkt im Gebäude genutzt werden, um den Wasserverbrauch zu reduzieren. An heißen Tagen wird Wasser in das Fassadenelement zurückgeleitet, verdunstet dort und sorgt so für den natürlichen Kühleffekt durch Evaporation. Optional kann zwischen dem Abstandsgewirke und der nachgelagerten Folie auch noch eine weitere Schicht, beispielsweise ein Vlies, platziert werden, das den Verdunstungsprozess verlängert und damit einen längeren Kühleffekt bewirkt. Der gesamte Systemaufbau (ohne Rahmen) ist maximal fünf Zentimeter dick.

"Dieses Fassadensystem stellt eine artifizielle Retentionsfläche zur Regenwasserrückhaltung und -verdunstung in der Gebäudefassade dar, die durch ihre optischen und haptischen Qualitäten nicht nur unglaublich schön ist, sondern zugleich einen Meilenstein für die Anpassung der gebauten Umwelt an die akuten Herausforderungen unserer Zeit darstellt", erklärt Christina Eisenbarth, Akademische Mitarbeiterin am ILEK und Erfinderin von HydroSKIN.

Vielversprechende Ergebnisse bei Praxis-Erprobung am Hochhaus

Erste hydroaktive Fassadenprototypen wurden zur Praxiserprobung im realen Umfeld mit umfangreicher Messtechnik am D1244 Hochhaus der Universität Stuttgart montiert. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und KonstruierenErste hydroaktive Fassadenprototypen wurden zur Praxiserprobung im realen Umfeld mit umfangreicher Messtechnik am D1244 Hochhaus der Universität Stuttgart montiert. Foto: © Christina Eisenbarth, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren

Hochhäuser zeigen besonderes Potenzial zur Anwendung hydroaktiver Fassaden – und das nicht nur aufgrund ihrer großen Fassadenfläche. Zum einen trifft der Regen mit zunehmender Höhe als Schlagregen schräg auf die Fassade, so dass ab etwa 30 Metern Gebäudehöhe mehr Regen über die Fassade aufgenommen werden kann als von einer gleich großen Dachfläche. Zum anderen verstärken die hohen Windgeschwindigkeiten den Verdunstungskühleffekt und es entsteht ein kühler Luftstrom, der abwärts in den Stadtraum zieht.

Erste HydroSKIN-Elemente werden derzeit am weltweit ersten adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart getestet, dem Flaggschiff des Sonderforschungsbereichs 1244 und ausgewähltem Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA). "Die Ergebnisse sind vielversprechend. Bereits in Laboruntersuchungen konnten wir ca. zehn Grad Temperaturreduktion durch den Effekt der Evaporation nachweisen. Die ersten Messungen am Hochhaus Anfang September weisen auf ein noch deutlich höheres Kühlpotenzial hin", erklärt Christina Eisenbarth. 2023 wird eine weitere Etage des adaptiven Hochhauses D1244 mit HydroSKIN-Elementen realisiert werden.

Der Einsatz der hydroaktiven Fassadenelemente bleibt jedoch nicht auf das Forschungshochhaus beschränkt: Da die HydroSKIN-Elemente sehr leicht sind, können sie an jeder Fassade im Neubau wie auch im Gebäudebestand nachträglich angebracht werden.


Weitere Informationen (1): Publikation:
Potentials of hydroactive lightweight façades for urban climate resilience, Christina Eisenbarth, Walter Haase, Lucio Blandini, Werner Sobek, Wiley Online Library, März 2022
https://bit.ly/3UCwSPA

Fachlicher Kontakt:
Christina Eisenbarth, Universität Stuttgart, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren, Telefon: +49 (0)711 685-66138, E-Mail: christina.eisenbarth@ilek.uni-stuttgart.de.


Weitere Informationen (2): Den bebilderten Fachartikel als PDF-Datei herunterladen: Hydroaktive Fassade bietet Schutz vor Hitze und Hochwasser

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