Foto: © ATP architekten ingenieure
FASSADE - Aktuell | Dezember 2024
ATP Frankfurt: Neue integrale Tandem-Spitze in Mainhattan
Dirk Bohnstedt ist seit Kurzem neuer Geschäftsführer/Ingenieure bei ATP Frankfurt.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Bruchspannung und der Anzahl der entstehenden Bruchoberflächen bei rein thermisch verursachtem Glasbruch. (Foto: © Ekkehard Wagner)
Dezember 2022
Der thermischer Doppel-Y-Bruch ist eine Besonderheit bei den thermisch verursachten Glasbrüchen. Ekkehard Wagner beschreibt im Folgenden, wie es zu dieser Art von Bruch kommt und an welchen Merkmalen man ihn erkennen kann.
Glasbruch entsteht immer dann, wenn die einwirkenden Spannungen die Materialfestigkeit überschreiten. Kein Glasbruch kann ohne äußere Einwirkungen entstehen. Bei thermisch verursachten Glasbrüchen von nicht vorgespannten Gläsern muss es somit zu einer großen Teilerwärmung von ca. 40 °C und mehr innerhalb der Scheibenfläche kommen.
Bei gleichmäßiger ganzflächiger Erwärmung, wie es bei der ESG-/TVG-Herstellung der Fall ist, kann kein Glasbruch entstehen. In der Praxis sind die Ursachen vielfältig, was nachfolgende Auflistung beispielhaft zeigt.
- Teilbeschattung/Schlagschatten bei stärker absorbierendem Glas
- innenliegende Verdunklungsanlage direkt am Glas
- raumseitiges Bemalen, Bekleben, Innenabdeckung oder Scheibendekoration
- dunkle Gegenstände raumseitig direkt an der Verglasung wie z.B. Sessel, Kissen, Fernseher, u.a.
Es können aber durchaus noch weitere Ursachen thermische Glasbrüche auslösen. Die typischen Merkmale eines thermisch verursachten Glasbruchs sind hinlänglich bekannt:
- rechtwinkliger Einlauf zur Glaskante
- rechtwinkliger Durchlauf durch die Glasdicke
Deshalb ist es zur Analyse derartiger Glasbrüche zwingend notwendig, immer die Glaskante zu betrachten. Das Sprungbild kann, je nach Dauer und Größe der einwirkenden Temperatur, von einem einzigen Einlauf bis hin zu starker Aufspaltung in eine Vielzahl von Sprüngen an der Kalt-/Warmzone variieren.
Einige weitere Merkmale von solchen thermisch verursachten Glasbrüchen können zusätzlich zu den bereits oben erwähnten folgende sein:
- häufig mehrfacher Richtungswechsel,
- häufig Häkchenbildung am Rissende, bei größeren Glasdicken (≥ 3mm) Wallner’sche Linien am ersten Richtungswechsel,
- auffallend oft in der Winterjahreshälfte,
- sehr häufig auf der raumseitigen Scheibe auftretend, bei Dreifach-Isolierglas selten auch an der mittleren Scheibe,
- nie aus der Ecke herauslaufend, immer entfernt davon an der Kante beginnend.
Wird die Glaskante nicht in Augenschein genommen, kann es durchaus zu Verwechslungen mit anderen Bruchursachen kommen.
Gerade bei den heute eingesetzten, hochwärmedämmenden Dreifach-Isolierglaseinheiten besteht eine erhöhte Gefahr des Glasbruchs, wenn diese raumseitig direkt am Glas durch Gegenstände abgedeckt werden. Die kurzwellige Wärmestrahlung der Sonne geht relativ ungehindert durch das Glas und die Beschichtung hindurch. Im Raum erwärmt diese Strahlung alle Gegenstände, auf die sie trifft. Die warmen Oberflächen geben dann eine wesentlich langwelligere Wärmestrahlung ab, die von der Wärmedämmbeschichtung des Glases kaum mehr hindurchgelassen wird.
Es kommt zum Wärmestau hinter der Verglasung, zum schnellen örtlichen Aufschaukeln der Glastemperatur und durch die teilflächige starke Erwärmung zu Spannungen, die dann zu Glasbruch führen.2 Auch außenseitige Beklebung oder teilflächige Abdeckung kann diesen Glasbruch verursachen. Darüber hinaus kann auch die mittlere Glasscheibe, sofern in Floatglas ausgeführt, aufgrund ihrer deutlich stärkeren Erwärmung in seltenen Fällen thermisch verursachten Glasbruch aufweisen. Dieser Glasbruch beschäftigt inzwischen immer häufiger die Sachverständigen. Hierbei ist der Palm- oder Fächerbruch einer der am häufigsten zu sehenden Glasbrüche. Die Vielzahl an Bruchbildern, die ich in den letzten Jahren hierzu erhalten habe, dokumentieren das.
Der rechtwinklige Einlauf von der Glaskante aus läuft meist bis zum Ende der Glashalteleiste und teilt sich dann dort, oder noch darunter in eine Vielzahl von weiteren Sprüngen auf. Dies kann durchaus das Aussehen eines Ypsilons haben mit weiteren Aufspaltungen innerhalb des Vs. Bei der Vielzahl an beurteilten thermisch verursachten Glasbrüchen, die ich innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte begutachtet und auch erzeugt habe, ist eine Besonderheit aufgefallen. Abweichend zur allgemeinen Meinung, dass es bei thermisch verursachten Glasbrüchen nur zu einem einzigen Durchlauf rechtwinklig zur Oberfläche an der Kante kommt, konnten in einigen Fällen auch "Aufspaltungen" festgestellt werden.
Zwar ergab sich immer das Bild des exakt rechtwinkligen Ein- und Durchlaufs, zusätzlich zeigte sich in einigen Fällen aber bei der Betrachtung der Glaskante auch noch ein kleinerer zusätzlicher "Y-Sprung", eine kleine Aufspaltung, abweichend vom reinen rechtwinkligen geraden Durchlauf im Bereich der Kante.
Dass dieser "Y-Sprung" direkt mit dem thermischen Riss und nicht zeitverzögert auftritt, kann als sicher angenommen werden, denn hier gilt auch eines der drei Glasbruchgesetze: "Brüche spalten sich immer in ihre Laufrichtung auf ". Anhand der Bilder muss davon ausgegangen werden, dass es sich um eine zusätzliche kurze und kleine Aufspaltung von der stärker belasteten Oberfläche zur kälteren Oberfläche handelt, was auf den Bildern sehr deutlich erkennbar ist. Wenn man nun vermuten würde, dass der Y-Bruch innerhalb der Glasmasse aufgrund einer Kantenbeschädigung oder schlechter Schnittkante auftritt, so muss man dem klar widersprechen.
Auch bei sauber geschnittener Glaskante konnte dieser "Y-Bruch" festgestellt werden. Dies könnte für Sachverständige ein Hinweis auf eine "Kantenbeschädigung" sein. Das ist allerdings nicht so. Kantenbeschädigungen können sich nicht als "Y-Sprung" darstellen, der aus dem rechtwinkligen Einlauf entsteht. Bei den beobachteten Y-Sprüngen in der Glasmasse konnten keine Kantenbeschädigungen wie Ausmuschelungen, Zerkrümelungen oder schlechte Schnittkanten festgestellt werden. Somit teilt sich bei hoher thermischer Belastung der Sprung nicht nur beim Einlaufen in die Glasfläche Y-förmig auf, sondern kann sich in selteneren Fällen auch innerhalb der Glasmasse von der wärmeren zur kälteren Glasoberfläche Y-förmig aufspalten.
Es entsteht ein "doppelter Y-Sprung". Die zur kälteren Glasoberfläche Y-förmige Aufspaltung reicht dabei nur wenige mm in die Glasfläche hinein und kann beim Ausbau durchaus abfallen, was vermeintlich eine Kantenbeschädigung sein könnte. Dem ist aber nicht so.
Einen rein thermisch verursachten Glasbruch mit starker Aufspaltung und vielen Bruchoberflächen auf eine schwache Kante oder eine Beschädigung wie den Y-Riss an der Glaskante zurückzuführen ist ein Trugschluss. Deutliche Kantenbeschädigung und starke Bruchaufspaltung können nicht zusammen auftreten. Bei sehr starker Bruchaufspaltung und somit hoher Bruchspannung, wie z. B. beim "Palm- oder Fächerbruch", kann die Ursache nur an sehr hoher Teilerwärmung liegen und keinesfalls durch eine schlechte Kante oder kleine Kantenbeschädigung ausgelöst werden.
Es ist zwar nicht immer möglich, die genaue Bruchursache vor Ort zu ermitteln, da man zum Zeitpunkt des Brucheintritts nicht anwesend ist und somit die örtlichen Gegebenheiten und Einwirkungen zu diesem Zeitpunkt nicht kennt. Die Merkmale eines typisch thermischen Sprungs sollte aber jeder Sachverständige kennen und neuerdings ebenfalls den zwar seltener auftretenden, aber durchaus vorkommenden "Doppel- Y-Sprung". Eine Verwechslung mit einer Kantenbeschädigung scheidet damit aus.
Weitere Informationen: Den bebilderten Fachartikel als PDF-Datei herunterladen: Glasbruch: Es ist nicht immer, wie es scheint
Kommentar schreiben